Wenn der Allgäuer die Schönheit seines Landes verdeutlichen will, erzählt er gerne die Legende von Jesus und dem Teufel. Dieser wollte nämlich Jesus eines Tages das Paradies auf Erden vortäuschen und ihm zu diesem Zweck ein ganz besonders schönes Stück Land zeigen. Der Teufel führte Jesus daraufhin auf einen Berg im Allgäu. Jesus ließ sich selbstverständlich nicht austricksen. Doch allein die Tatsache, dass der Teufel für sein Vorhaben das Allgäu ausgewählt hatte, spricht für sich. Und tatsächlich hält diese Voralpen-Region im Süden Deutschlands eine Vielzahl optischer Highlights bereit: Sanfte Hügel, hohe Berge, stille Täler, weite Wälder. Besonders romantisch zeigt sich das Allgäu in seinem westlichen Teil. Die Region zwischen Kempten und dem Bodensee ist geradezu gespickt mit hübschen Ortskernen und historischen Altstädten. Dazu kommen verschlungene, meist nur wenig befahrene Landstraßen. Wer also ganz gemütlich durch eine paradiesische Landschaft touren will, ist hier goldrichtig. Als Ausgangspunkt empfiehlt sich die älteste Stadt Deutschlands: Kempten. Im Tal der Iller gelegen, ist Kempten nicht nur Hauptstadt des Allgäus, sondern gleichzeitig auch eine der reizvollsten Städte der Region. Von der Umgehungsstraße aus folgt man zunächst dem Schild historisches Zentrum und rollt anschließend auf Kopfsteinpflaster bis direkt zum Marktbrunnen. Die gesamte Altstadt Kemptens ist verkehrsberuhigte Zone und darf im Schrittempo jederzeit befahren werden. Hier am Brunnen heißt es nun, das Bike abstellen, den Blick über die verzierten Fassaden der Bürgerhäuser schweifen lassen und das prächtige Rathaus ein wenig genauer betrachten. Man kann sich dazu natürlich auch in eines der Straßencafés setzen. Wer noch nicht gefrühstückt hat – hier kann er es besonders malerisch nachholen. Ist der Kaffee-Durst gestillt, geht es weiter in Richtung Buchenberg. Hierzu verlassen wir Kempten in westlicher Richtung und landen automatisch auf einer perfekt ausgebauten Landstraße, die in sauberen, runden Kurven schnell an Höhe gewinnt. Schräglagenspaß am Morgen – das passt. Hinter Buchenberg folgt die Strecke dem Flüsschen Argen und lässt uns ausgiebig Zeit, die Gegend zu betrachten. In Nellenbruck beginnt ein interessanter Schlenker nach Süden, der auf engem und kurvigem Asphalt über die Orte Silbratshofen, Elbratshofen, Grünenbach und Maierhöfen zum nächsten Zwischenstopp führt. Und der heißt Isny. Das Städtchen mit seinem mittelalterlichen Kern bietet einen einzigartigen Anblick: Eine Insel aus roten Ziegeldächern inmitten eines Ozeans aus grünen Almwiesen. Dazwischen die fürs Allgäu typischen Zwiebelkirchtürme, am Horizont die Alpen. Da die komplette Altstadt nur für Fußgänger geöffnet ist, empfiehlt es sich, zunächst auf der Hauptstraße zu bleiben und dann in Höhe einer Sportanlage rechts abzubiegen. Diese Straße führt durch das nördliche Stadttor direkt zu einem Parkplatz, von dem aus das Zentrum mit wenigen Schritten erreicht ist. Die Bundesstraße 12, die nun weiter in Richtung Wangen führt, ist nur dem Namen nach eine schnöde Schnellstraße. In Wirklichkeit entpuppt sie sich als kurvenreiche Strecke mitten durch ein idyllisches Bauernland. Gehöfte, Ortschaften und Kirchtürme ziehen vorüber. Dunkelbraune Kühe stehen auf prallen grünen Weiden. Es rieht nach Gras, Heu und frisch geschlagenem Holz. Kurz vor Wangen dann zweigt ein schmales Sträßchen nach rechts ab und bringt uns über Staudach und Schwarzenberg direkt an die Stadtmauer der ehemals freien Reichsstadt. Wangen hat nicht umsonst den Ruf, eine überaus freundliche Stadt mit fast mediterranem Flair zu sein. Wer zu Fuß oder im Motorradsattel durch die Gassen der Altstadt bummelt, lässt sich schnell von der friedlichen und entspannten Atmosphäre einfangen. Man folgt am besten dem Schild Zentrum/historische Altstadt und erreicht den Beginn der Fußgängerzone, wo einige Straßencafés und genügend Parkplätze wie gerufen kommen. Denn der Blick über die Kaffeetasse auf die vielen wunderschönen Häuser Wangens hat schon was. „An Wangen bleibst Du hangen“, sagt ein Allgäuer Sprichwort. Stimmt. Durch das Stadttor verlassen wir Wangen und fahren südwärts über Opfenbach hinab zur B 308, wo wir uns links Richtung Osten halten. Das nächste Stück bis Oberstaufen entpuppt sich als Panorama-Etappe der feinsten Sorte. Auf der rechten Seite liegt das gewaltige Panorama der Allgäuer und Österreichischen Alpen, links das Meer der grünen Almwiesen. Eine echte Postkarte. Der Asphalt würdigt diese Ausblicke, indem er sich nur leicht gewunden und bestens präpariert gegen Osten zieht. Ein toller Pausen-Tipp ist der Rastplatz Paradies kurz vor Oberstaufen, von wo man einen sehr schönen Rundblick hat. Der 7.000-Seelen-Ort Oberstaufen wurde durch eine ganz spezielle Heilmethode weltberühmt: die Schrothkur. Sie greift auf das Prinzip der feuchten Wärme zurück. Dazu wird der Patient in kalte Tücher gewickelt, die sich am Körper erwärmen. Erfunden hat die Schrothkur der schlesische Arzt Johann Schroth im Jahre 1820. Hinter Oberstaufen erklimmt die Bundesstraße einige Höhenmeter und führt dann mitten durch ein Hochtal. Schöne Ausblicke nach links auf die Salmaser Höhe und nach rechts auf den Hochgrat folgen. Wie ein dunkelblauer Tintenfleck taucht dann plötzlich der Alpsee auf. Schilf wogt bedächtig an seinem Ufer, das klare Wasser lädt zum Baden ein. Wie? Einfach rechts ranfahren, das Bike abstellen und zehn Meter zu Fuß zum See gehen. Mit Immenstadt wartet kurz nach dem Alpsee eine der ältesten Tuchmacher-Städte Deutschlands. Zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert war Immenstadt berühmt für seine aufwendig gewebte Leinwand. Doch dann kippten billige Importe aus den Kolonien den gesamten Allgäuer Stoffmarkt. Ein kurzes Stück hinter Immenstadt erreichen wir Sonthofen. Für die Fahrt von Oberstaufen nach Sonthofen gibt es übrigens eine Alternative: Man fährt nach Süden, überquert bei Aach die Grenze nach Österreich und steuert Hittisau an. Dort weiter ostwärts. Hinter Balderschwang beginnt die Riedberg-Passstraße. Noch nie etwas davon gehört? Na dann wird es aber Zeit. Die Riedberg-Straße ist nämlich eine überaus kurvige und verzwickte Angelegenheit. Sie windet sich, oder besser gesagt: sie zackt sich hoch bis auf 1.420 Meter Höhe. Sehr schmal, sehr steil und insgesamt in eher rauem Zustand. Geraden sind Mangelware, dafür warten Bodenwellen ohne Ende. Also ehrlich: Diese Passstraße ist eine super Sache und fast ein Geheimtipp. Da es vom Sattel aus nicht viel zu sehen gibt, nimmt man sich am besten gleich den Abstieg vor. Und der ist von der gleichen 1a-Qualität wie die Auffahrt. Vielleicht sogar noch eine Spur interessanter. Weil der Belag mit Flicken übersät ist und die ganze Konzentration fordert. Vor Obermaiselstein biegen wir nach Tiefenbach ab, um in einem kleinen Bogen Oberstdorf zu erreichen. Das Dorf ist mit seinen 12.000 Einwohnern eigentlich schon eine Kleinstadt und liegt zwischen den Gipfeln von Fellhorn, Nebelhorn und Söllereck mitten in einem phantastischen Alpenpanorama. Die Qualitäten Oberstdorfs entdeckte natürlich auch der Fremdenverkehr, und so stehen auf der Statistik der Touristik-Information jährlich 2,5 Millionen Übernachtungen. Dennoch vermisst man in dem Ort jenen Alpen-Kitsch anderer Urlauberzentren. Ob aus Vernunft oder wegen Bauvorschriften – Oberstdorf hat es letztendlich geschafft, seinen ursprünglichen Charakter zu bewahren. In Sonthofen rechts ab Richtung Hindelang. Immer noch gemächlich geradeaus. Doch das ändert sich schnell. Denn eine etwa fünf Kilometer lange Achterbahn bringt uns von Hindelang hinauf ins 1.136 Meter hoch gelegene Oberjoch. Eine feine Sache. Das Wort geradeaus existiert nicht mehr, das Motorrad steht nur noch sehr selten in der Senkrechten. Einziger Wermutstropfen: Das für die ganze Strecke geltende Überholverbot. So sollte man auf freie Fahrt warten, um nicht hinter irgendeiner Familienkutsche oder einem Wohnmobil hergurken zu müssen. Ein großes Schild mit der Aufschrift “Grüß Gott im Tannheimer Tal” begrüßt uns gleich hinter Oberjoch. Vielen Dank, liebe Tannheimer. Aber auch so wären wir gerne gekommen. Dieses Hochtal ist nämlich ein echtes optisches Highlight. Seine Hänge sind fast bis hinauf zu den Felsspitzen mit Almwiesen bewachsen und verwandeln das Tal in einen grünen Schlauch. Als Alternative zur Hauptstraße bieten sich die links davon verlaufenden asphaltierten Landwirtschaftswege an. Von Gehöft zu Gehöft lässt es sich auf ihnen genüsslich das Tal entlangbummeln. Vor dem Haldensee biegen wir links nach Grän ab und erreichen über Pfronten auf gut ausgebauter, kurviger Straße Füssen. Bayerns höchst gelegene Stadt (803 Meter) war im Mittelalter ein wichtiger Handels- und Warenumschlagplatz auf der Route Augsburg – Oberitalien. Die Bedeutung ist geblieben, nur werden heute statt Stoffen und Gewürzen Touristen gehandelt. Der Grund sind die Königsschlösser rund um Füssen. Als Panoramaroute führt die B 16 aus Füssen hinaus Richtung Norden. Sanfte Kurven, jede Menge traumhafter Blicke nach rechts auf den Forgensee. Weiter hinten erkennt man Schloss Neuschwanstein vor der grandiosen Kulisse der Ammergauer Alpen. In Rieden links ab Richtung Seeg und Lengenwang. Im hübschen Marktoberdorf biegen wir links auf die B 472 ein, um gleich anschließend die B 12 unter die Räder zu nehmen, die uns nach Kempten zurückbringt.